michidiers nächste Rezension auf topfree.de. Diesmal zum Graphic Novel „The Nobody“ (144 Seiten) vom Eisner-nominierten Comicbuchautor Jeff Lemire, das bei Vertigo veröffentlicht wurde.
Die geordnete Welt von Large Mouth, einer Kleinstadt irgendwo in den Vereinigten Staaten, wird vollkommen auf den Kopf gestellt, als eines ein Zimmer im örtlichen Motel von einem seltsamen Gast bezogen wird: ein in Mullbinden eingewickelter Mann mit einer Schweißerbrille. Trotz Misstrauens der Dorfbevölkerung scheint die heranwachsende Vicki ein gewisses Vertrauen zu diesem Mann gefunden zu haben. Als eine Frau spurlos verschwindet, scheint das Dort den Unbekannten als Verdächtigen schnell gefunden zu haben. Als die Ereignisse sich überschlagen, entdeckt Vicki sein schreckliches Geheimnis.
Large Mouth ist eine der Kleinstädte in den Weiten der Vereinigten Staaten, die uns immer wieder in Filmen, Büchern oder Comics begegnen: Dogville, American Gods, Freaks of the Heartland sind nur ein paar, die mir einfallen. Hier herrscht die heile Welt, jeder kennt jeden, die Kinder sind wohlerzogen, und am Abend sitzen die Männer in der einzigen Kneipe zusammen. Die größte Attraktion scheint ein riesiger Barsch zu sein, der vor vielen Jahren einmal im See der kleinen Stadt gefangen worden ist. Ansonsten ist außer ein paar Angelurlaubern nicht viel los.
Jeff Lemire hat sich diesen zwar nicht neuen, aber interessanten Hintergrund ausgesucht und lässt eine Figur, die stark an H.G. Wells „Der Unsichtbare“ angelehnt ist, in diesen in sich abgeschlossenen Mikrokosmos als Fremdkörper eindringen. Dabei entsteht ein Kette von folgenschweren Entwicklungen, die das Misstrauen der Menschen schließlich in extreme Hassgefühle gegenüber dem Unbekannten wandeln lassen. Jeder Bewohner sieht sich plötzlich als eine Art Rächer, der verfolgen und strafen will und sich dabei glaubt sich im moralischen Recht wähnt. Gewissen und Empathie für das Opfer werden ausgeblendet. Vicki, die im Gegensatz zu den anderen als einzige Vertrauen zu den Mann gefunden hat, scheint hilflos und am Ende erkennt sie, wie nichtig die Dinge sind, mit denen sich die Menschen hier zuvor befasst haben.
Schon beim ersten Durchblättern des Werkes wird man sofort mit Lemires ungewöhnlichen Zeichnungen konfrontiert. Dekore, Requisiten und Hintergründe werden nur sehr spartanisch eingesetzt. Dieser Kunstgriff verstärkt die Illusion der Einsamkeit, die durch die kühle Farbgebung blau-schwarz-weiß eine gefühlsarme Note bekommt. Schnell bekommt man Mitleid mit den fragilen dargestellten Figuren in dieser erdrückenden Kühle der Umgebung. Der Gebrauch von diesem zeichnerischen Minimalismus kann schon fast als Integrationsversuch von Lemire gesehen werden, um den Leser eine mentale Trennung vom Comicgeschehen unmöglich zu machen, die oftmals dann entsteht, wenn die Zeichnungen zu genau, zu photorealistisch oder die einzelnen Panels zu überfüllt sind.
Fazit: Diese ungewöhnliche Story verkörpert nicht nur die Verhaltensmerkmale einer nach voraussehbaren Konventionen handelnden Dorfbevölkerung aus einer amerikanischen Kleinstadt. Er lässt auch den Menschen, und damit auch dem interessierten Leser, einen Spiegel vorhalten, in dem man vielleicht falsch verstandene individuelle Freiheit und Eigenverantwortung erkennt, die sich in der Reaktion der Bevölkerung, aber auch im Scheitern des Unbekannten zeigt.