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Das Erbe – Rezension

Das ErbeText und Zeichnungen: Rutu Modan

Als die Jüdin Mika ihre Großmutter Regina Segal auf einer Reise von Tel Aviv nach Warschau begleitet, hatte sie eigentlich gedacht, diese bei der Klärung einer Erbschaftsangelegenheit zu unterstützen. In Warschau angekommen, stellt Mika fest, dass Regina ein Geheimnis mit sich herumträgt, dem sie hier auf den Grund gehen möchte. Während der darauf folgenden Suche nach einem wegen dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im Jahre 1940 verlorenem Grundbesitz, beginnt sich auch der Schleier um eine alte Liebesbeziehung von Regina zu lüften. Als sich noch ein weiteres Familienmitglied aus Israel in die Erbsache einschaltet und Mika sich in einen jungen polnischen Touristenführer verliebt, spitzen sich die Ereignisse zu und bei Regina reißen alte familiäre Wunden auf.

Vordergründig erzählt dieser als eine Art Reiseroman angelegter Comic von einem Thema, dass heute in Deutschland, Israel und Polen oft diskutiert wird: die Rückführung von im Zweiten Weltkrieg enteigneten Immobilien an die ehemaligen Eigentümer und die damit verbundenen Folgen für die jetzigen Bewohner. Nach und nach entwickelt sich daraus jedoch eine schicksalhafte Familien- und Liebesgeschichte, die Einfluss auf fast alle beteiligten Figuren der Story nimmt. So bewegt sich die Handlung schnell von einem eher allgemeinen Thema zu einer charakterlichen Darstellung aller Beteiligten.

Dabei gelingt der israelischen Künstlerin Rutu Motan auf faszinierende Weise, ihre Figuren und deren Handlungen glaubhaft darzustellen. Gesegnet mit einer offensichtlich feinen Beobachtungsgabe erlaubt Motan uns einen kritischen, aber auch humorvollen Blick auf menschliche Macken und Eigenarten. Besonders gelungen ist das bei den beiden weiblichen Protagonisten Regina und ihrer Enkelin Mika, die trotz ihrer familiären Bande immer wieder ein Katz- und Mausspiel miteinander treiben. Das um diese beiden Hauptfiguren geschickt herumgebaute männliche Umfeld scheint dabei auf die sture und eigenwillige Art dieser beiden Hauptfiguren nur reagieren zu können.

Rein zeichnerisch sind die -222- Seiten der Graphic Novel in Strich und Farbe klar dargestellt und erinnert dabei ganz an Hergés „Ligne Claire“. Es reichen schon ein paar subtile Striche, um die Stimmungsänderung einer Figur von Traurigkeit in Erschrockenheit zu ändern: Annäherung an die Menschlichkeit durch reine Stilisierung. Das lässt genug Raum, auch für eigene Gedanken. Zudem werden bei den Hintergründen großartige Bilder vom jetzigen und ehemaligen Warschau präsentiert. Nichts ist zu opulent geraten, jeder Strich und jede Fläche ist so platziert, dass es trotz aller Vereinfachung real anmutet
Holocaust: Motan erhebt weder den mahnenden Finger, noch wird dieser direkt ein Thema, stattdessen wird der Umgang der heutigen Generation mit dem Völkermord thematisiert. So befindet sich im Hinflug nach Warschau eine Schulklasse im Flugzeug, wobei die lümmelhaften Schüler alles andere als wirklich betroffen vom Holocaust erscheinen: „Majdanek steckt Ausschwitz in die Tasche! Ist viel gruseliger!“ Ebenso wird ein historisches Rollenspiel für Touristen in einer Straße in Warschau, in dem Juden von der SS auf der Pritsche eines LKWs zur Deportation verladen werden, fast zu einer slapstickartigen Posse. Holocausttourismus wird zu einem Event für eine mit Smartphones bewaffnete Internetgeneration.

Fazit: Eine Tragikomödie mit komplexer Handlung, in der die Geschichte eines materiellen Erbes zu einem kollektiven, historischen Vermächtnis wird.

Das Erbe

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