Oberflächlich betrachtet ist Sonnenstein eine ganz simple Liebesgeschichte, wie sie Tag für Tag tausendfach geschieht: Zwei junge Frauen, die Schriftstellerin Lisa und die Softwareentwicklerin Ally, bekommen über ein Internetportal miteinander Kontakt, lernen sich nach einiger Zeit des gegenseitigen Abtastens über den Chat schließlich real kennen und verlieben sich ineinander.
Wie das wirklich gelungene Cover es bereits verrät, steckt hinter „Sonnenstein“ aber weitaus mehr: bei dem Internetportal handelt es sich um eines für Menschen mit Neigungen zum BDSM – Ally ist sexuell dominant, während Lisa submissiv veranlagt ist.
Die aus der Sicht von Lisa in Form eines Rückblicks erzählte Geschichte beginnt damit, dass zwei Frauen ihre sexuellen Neigungen ausleben möchten. Beide sind eher schüchtern und ein wenig naiv veranlagt, versuchen sich auf ihre Art und Weise an den anderen heranzutasten, bis sie merken, dass auch die Beziehung einer Domina zu ihrer Sklavin von tiefer Liebe geprägt sein kann. Auch wenn sie ihre gegenseitigen Gefühle zunächst ignorieren, werden diese bald so stark, dass sie sich damit auseinandersetzen müssen.
Stjepan Sejic ist mit Sonnenstein eine auszeichnende Gradwanderung zwischen der Darstellung von BDSM/Fetisch-Erotik, einer Lovestory und der inneren Auseinandersetzung ihrer Hauptfiguren gelungen. Weder gleitet die Geschichte in explizite Sex/BDSM-Szenen ab, noch wird es allzu schnulzig. Und wenn es hier und da einmal zu gefühlsbeladen wird, rettet sich Sejic erzählerisch mit einer humorvollen Pointe aus der narrativen Sackgasse heraus. Charmante Dialoge wechseln sich mit anschaulichen, inneren Monologen und „technischen“ Erklärungen zur Praxis von BDSM und Fetischoutfits ab.
Die Zeichnungen können sich sehen lassen, und das meine ich nicht nur in Bezug auf die Darstellung von zwei attraktiven jungen Frauen in Latexkleidung. Vor allem ist das famose Miteinander von Wort und Bild ist so gut gelungen, dass sie beim Lesen buchstäblich zu einer Einheit verschmelzen, „Sonnenstein“ also als Bild-und Textgeschichte mit Sprechblasen hervorragend funktioniert. Dem wenig nachstehend ist übrigens auch die Haptik des Albums, das mit einer festen Bindung, -128- Seiten incl. -35- Seiten Bonusmaterial, Hardcover und gutem Papier für nur 25 Euro aufwartet.
Ich kann und will dieses Buch gewiss nicht deshalb empfehlen, weil es mit „Missverständnissen“ oder „Vorurteilen“ hinsichtlich derjenigen aufräumt, die eine Beziehung wie Ally und Lisa führen. Das wäre zu klischeehaft, außerdem sind BDSM/Fetischerotik als künstlerische Darstellung in Buch oder Film mittlerweile ja längst aus der Schmuddelecke herausgekommen und in Richtung Mainstream gewandert. Ich kann das Album deshalb empfehlen, weil es einfach eine toll erzählte Liebesgeschichte ist und darüber hinaus, weil es eine bezaubernde Liebeserklärung an eine faszinierende Art der Gestaltung des Liebes- uns Sexlebens ist.
Fazit: Was Sie schon immer über BDSM-Sex wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten. Eine schöne Liebesgeschichte, in der nicht nur Latex glänzt!